Der Frage werden wir in dem folgenden Artikel auf den Grund gehen. Wir werden die verschiedenen Aspekte von allen Seiten intensiv beleuchten. Gerade im Oldtimerbereich hört man immer wieder: „Der hat erst XXX Km gelaufen, daher ist der Wert unermesslich“.
Also tasten wir uns mal langsam an die Einschätzung und Bedeutung des Kilometerstands ran.
Das gerade im Oldtimerbereich die Kilometer nicht verifizierbar sind, hat mehrere Gründe. Häufig gibt es im Oldtimerbereich nur 5stellige Km Anzeigen. Ob diese jetzt schon einmal oder zweimal oder gar dreimal wieder auf Null gesprungen ist, kann am Ende keiner sicher sagen. Bei Fahrzeugen älter 30 Jahren ist es keine Seltenheit, dass das Kombiinstrument wegen Defekt oder Umrüstung auf Drehzahlmesser schon einmal gewechselt wurde. Ob das Kombiinstrument nun mit Null Km, mit dem Kilometerstand vom Spenderfahrzeug oder mit einem Phantasiekilometerstand montiert wurde, lässt sich in der Regel nicht mehr nachvollziehen.
So wie heutzutage die Tachomanipulation immer noch ein Thema ist, war das Phänomen vor 30 Jahren durchaus beliebt. Die Storys über Tachotuning mit der Bohrmaschine sind wohl noch jedem präsent.
Wenn wir jetzt aber die Ringeltaube gefunden haben, 30 Jahre alt, aus erster Hand mit beweisbarem Kilometerstand, der lückenlos verifiziert ist? Ist dann alles perfekt und die Wiese wieder grün?
Ich zeige nun einmal ein Paar Fakten auf. Am Ende überlasse ich es Dir, das unverblümt zu bewerten.
Heutige Autohersteller (nicht die „Billigmarken“) konstruieren ihre Fahrzeuge auf 10 Jahre Lebensdauer. Statistisch fährt Otto Normalverbraucher 15.000 Km pro Jahr. Macht nach 10 Jahren 150.000 Km. Für die ersten vier Jahre, wo die Fahrzeuge häufig im Leasing laufen, packt der Hersteller noch einen Puffer von ca. 30.000 Km bis 50.000 Km drauf. Heißt, nach 10 Jahren und maximal 200.000 Km ist das Fahrzeug für den Hersteller fertig. Jeder Kilometer oder jedes Jahr mehr sind als Bonus zu rechnen.
Nun kann man sicher sein, dass der Hersteller bei den 15.000 Km von Otto Normalverbraucher pro Jahr, statistisch sehr genau weiß, was über die Kilometer passiert, z.B. wie viel Kaltstarts, wie oft Bordsteinkanten rauf und runter, wie oft die Fahrertür geöffnet wird, wie viel Bodenwellen und Gullideckel durchfahren wurden usw.. Das ist runtergebrochen auf jedes einzelne Bauteil am Auto und genau darauf sind diese konstruiert. Sehr vielen Dingen am Fahrzeug ist es wurscht, wie viel Kilometer das Fahrzeug zurücklegt. Der Verschleiß entsteht durch Nutzung.
Beispiel: VW Bulli mit 400.000 Km und normaler Nutzung = Fahrertür noch völlig intakt. VW Bulli mit 30.000 Km im Einsatz beim Paketboten = Tür rissig und fällt raus, weil maximale Schließungsanzahl erreicht ist.
Zwischenfazit: heutige Hersteller konstruieren Fahrzeuge auf 10 Jahre und normale Nutzung. In dem Nutzungsfenster fühlen sich die Fahrzeuge wohl und wurden dafür gebaut. Jede Abweichung von der normalen Nutzung hat durchweg negative Folgen, egal ob unterdurchschnittliche oder überdurchschnittliche Laufleistungen, wobei überdurchschnittliche Laufleistungen weniger schädlich sind. Das liegt mitunter daran, dass der Motor länger im optimalen Temperaturbereich läuft und die Nebenbauteile geringer belastet werden, wie Türen, Kupplung, Anlasser, Schlösser, Schalter usw.
Das Beispiel gilt für heutige Fahrzeuge. Dass sich die Parameter deutlich verschieben, je weiter man in die Baujahre zurück geht, sollte nicht überraschen. In den 60ern war man froh, wenn man das Fahrzeug über 5 Jahre retten konnte. Die 5stellige Kilometeranzeige reichte völlig aus, denn bei 100.000 Km war in der Regel eh der Stecker raus, also die Kiste in der Presse.
Nehmen wir mal ein fiktives Angebot unter die Lupe.
Fahrzeug XXX, 30 Jahre alt, verifizierte 50.000 Km = einmalige Gelegenheit? Warum hat er so wenig gelaufen?
Ist es eventuell ein Geländewagen, wo der Förster täglich im ersten Gang durchs Gelände geheizt ist. Der hat bei den Kilometern seine maximalen Betriebsstunden hinter sich. Der schwere Geländeeinsatz hat das Fahrzeug verschleißen lassen. Im Gelände kommen keine Kilometer zusammen, dafür läuft der Motor lange, um z.B. eine Seilwinde zu betreiben. Der Kilometerstand sagt hier gar nichts über den technischen Zustand oder Verschleiß aus!
Ist es eventuell ein Rentnerauto?
Am besten einen großen Bogen drum machen! Hier sind wir von der durchschnittlichen Nutzung ganz weit entfernt.
Der Rentner ist in der Regel nicht mehr berufstätig. Also fährt er morgens zum Bäcker und zurück, natürlich alles im Kaltstartbereich. Einmal die Woche geht’s zum nächsten Supermarkt, sonntags zur Kirche und nachmittags zum Cafe. Logisch wird das Auto auch jedes Mal in die Garage gefahren, auch bei Regen, im nassen Zustand. Dort steht das Auto dann in der „Heimsauna“ und rostet vor sich hin.
Mit dem Fahrprofil verschleißt man keine Reifen, dafür werden die aber steinalt. Ein weiteres Phänomen ist, das im Alter die Garagen „immer enger“ werden. Es liegt nicht an den Garagen, sondern an der mangelnden Beweglichkeit der Herrschaften. Hier wird gerne das Garagentor rechts und links mal „mitgenommen“ oder mit allen vier Stoßstangenecken mal angedotzt. Das Gehör lässt nach, daher leidet die Kupplung (viel Gas und wenig Kupplung).
Was erwartet mich beim Kauf eines Rentnerautos?
Motor hatte viele Kaltstarts und wurde nie warm gefahren = verschlammter Motor, Schmierungsmangel durch Ölverdünnung, überalterte Zahnriemen, Wartungsmängel, weil Inspektion wegen noch nicht erreichten Km nicht absolviert wurde (das mit den Zeitabständen wird gerne überlesen), erhöhter Verschleiß durch Nutzung in der Kaltstartphase und häufige Kaltstarts.
Kupplung erfahrungsgemäß spätestens nach 30.000 Km abgeraucht.
Reifen steinalt und genauso hart. Erste Fahrt bei Nässe endet meist „im grünen“.
Karosserie rund herum verdellert. Was nicht schon abgefahren ist, wird verrostet sein, weil das Fahrzeug lange schlecht belüftet in der feuchten Garage stand, am besten noch in der beheizten, das macht es noch schlimmer. Der Salzeintrag im Winter beschleunigt den Prozess dramatisch.
Dass die Bremsen wegen Unternutzung völlig vergammelt und fest sind, versteht sich von selbst.
Eventuell haben wir hier den berühmten „Scheunenfund“ (soviel Scheunen gibt es in Deutschland nicht mehr wie Scheunenfunde gemacht werden).
Fahrzeug stand als Tageszulassung noch 2 Jahre beim Händler. Dann wurde er etwas unterdurchschnittlich pro Jahr 10.000 Km bewegt. Nach 5 Jahren hat er irgendwelche Mucken gemacht (Motor klappert und Elektrikprobleme z.B.). Er wurde weggestellt und vergessen.
Die ursprünglichen Probleme wurden natürlich nicht beseitigt, nur hat die keiner mehr auf dem Schirm. Die weiteren 23 Jahre Standzeit unter mehr oder weniger guten Bedingungen haben dem Fahrzeug nicht gut getan.
Der Sprit ist verharzt und der Tank verrostet.
Der Vergaser hat sich durch Wasserablagerungen zersetzt. Bei Einspritzanlagen ist die Pumpe fest, die Düsen zu und der Mengenteiler fest gerostet.
Batterie ist tot, Reifen steinhart und nur noch zu verschrotten, alle Flüssigkeiten zu wechseln. Bremsen alle fest und sämtliche Brems- und Kupplungszylinder undicht.
Je nach Luftfeuchtigkeit in der Lagerstätte ist der Motor fest. Selbst wenn er noch dreht, kann Flugrost an Motorteilen nach kurzer Laufzeit zum Motortod führen.
Standschäden werden gerne unterschätzt und die Probleme von „vor dem Abstellen“ holen dich auch noch ein.
Das die Karosserie die mehr oder weniger gute Einlagerung auch nicht gut weggesteckt hat, sollte auf der Hand liegen.
Fazit: der eigentliche Kilometerstand (sofern verifizierbar) ist eigentlich zweitrangig. Wichtig sind die durchschnittliche Nutzung, regelmäßige Pflege und Wartung sowie nachvollziehbare Einsatzbedingungen. Fahrzeuge mit hohen Laufleistungen müssen nicht abschrecken, denn bei vernünftiger Wartung wird nicht jedes Teil am Fahrzeug die hohe Laufleistung haben (2. Motor, 4. Bremsanlage,3. Batterie usw.). Fahrzeuge mit echten 30.000 Km auf der Uhr können völlig „rund“ sein, Fahrzeuge mit 500.000 Km können noch topfit sein.
Also sollte man sich von dem Kilometerfetischismus verabschieden und auf das Wesentliche schauen.
Autor: Kfz – Sachverständiger Bernd Bischoff